„Fairständigung der Religionen“ – wie kann das gelingen?
Von Dr. Eberhard Martin Pausch
Im August 2021 übernahmen die Taliban nach zwanzig Jahren wieder die Macht in Afghanistan. Wieder werden die Frauenrechte dort eingeschränkt, und ein militaristisches religiöses Regime breitet sich aus. War und ist Afghanistan ein Beispiel für den „Clash of Civiliazations“, den Zusammenprall und „Kampf der Kulturen“, den Ende des letzten Jahrhunderts der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington prognostiziert hatte. „Der Kampf der Kulturen tobt bereits“, war die Meinung vieler Menschen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die den Anlass für den Einmarsch der NATO-Verbündeten in Afghanistan waren. Man wollte die von dort ausgehende Gefahr des internationalen Terrorismus beseitigen. Aber kann das mit Militär gelingen?
Huntington erblickte im Herzen der verschiedenen Kulturen dieser Welt unterschiedliche Religionen. Deren Auseinandersetzungen seien für die Weltgesellschaft bedrohlich, meinte der Wissenschaftler. Insbesondere der Islam sei gefährlich. Aber man muss genauer hinschauen: Die Attentate von „Nine-Eleven“ waren das Werk von islamistischen Terroristen. Islamist*innen sind eine Minderheit im Islam, und Terrorist*innen sind wiederum eine Minderheit innerhalb der Islamist*innen. Gewaltbereite fundamentalistische Gruppen gibt es leider in allen Kulturen und Religionen. Sie sind fast überall Minderheiten, aber das, was sie an Gewalt über die Welt bringen, ist schrecklich. Wie kann man ihnen Einhalt gebieten?
Wie lässt sich religiös motivierte Gewalt überwinden?
Eine erste Antwort auf diese Frage lautet: Wir brauchen einen Dialog, ja, einen Polylog der Kulturen und Religionen. Dabei muss es darum gehen, mit den Menschen aus anderen Religionen, die Frieden wollen und die Gewalt ablehnen, Gemeinsamkeiten auszuloten: Was können wir alle dazu beitragen, damit dem Klimawandel Einhalt geboten wird? Wie können wir weltweit mehr soziale Gerechtigkeit schaffen? Wie lassen sich Diplomatie, zivile Konfliktbearbeitung, präventive Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens stärken und verbessern?
Eine zweite Antwort auf dieser Grundlage heißt: Wir dürfen in den Polylogen strittige Themen nicht vermeiden, sondern müssen vielmehr auf zivilisierte Weise miteinander das Streiten einüben. Wir benötigen eine fruchtbare Streitkultur, in der wir aber die Würde aller Beteiligten wahren.
Eine dritte Antwort kann an den Philosophen Gotthold Ephraim Lessing anknüpfen. Sie besagt: Wahrheit ist größer als eine einzelne Religion, ja, sie reicht weit über die Religionen hinaus. Und innerhalb der Religionen ist die Wahrheitsfrage bei weitem nicht die wichtigste. Denn keine Religion kann die von ihr behauptete Wahrheit „verifizieren“. Und Toleranz, Nächsten- und Feindesliebe sind bei weitem die wichtigsten Tugenden – vielleicht sind sie ja in den großen Weltreligionen in ganz ähnlicher Weise präsent. Bereitschaft zum streitbaren Polylog, Verifikationsvorbehalt und Liebesprimat: Diese drei Stichworte umreißen eine realistische Alternative zum „Kampf der Kulturen“.
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