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Unterschiedliche Wirklichkeiten

Erfahrungen aus der Beratungsarbeit

Von Christopher Scholtz

Menschen, die über längere Zeit in verhärtete Konflikte verwickelt sind, leben wie in einem Tunnel und haben nur noch eine eingeschränkte Wahrnehmung. Mit jeder neuen Episode des Konflikts geht es weiter in den Tunnel hinein. Und je tiefer sich ein Mensch in dieser Dunkelheit befindet, desto mehr geht der Kontakt zu der Welt außerhalb des Konflikts verloren: Menschen beginnen, fast ausschließlich in ihrer selbst konstruierten Wirklichkeit zu leben.

Bei unserer Arbeit im IPOS, einem kirchlichen Beratungsinstitut, erleben wir oft, wir sehr Menschen in solchen Situationen leiden: Irgendwann drehen sich große Teile des Lebens nur noch um den Konflikt und nicht selten macht das die Menschen krank. Dann stehen zwei Fragen im Raum: Wie konnte es dazu kommen? Und wie gelingt es, einen Weg aus dem Tunnel zurück ins Helle zu finden?

KOMMUNIKATION DIE TRENNT

In lang anhaltenden Konflikten lassen sich oft wiederkehrende Abläufe entdecken. Diese können ganz unterschiedlich aussehen, aber sie haben dennoch eine Gemeinsamkeit: sie schaffen Distanz zwischen den Beteiligten. Unterschiede werden betont und es wird dem Gegenüber vorgeworfen, dass es anders redet, anders denkt oder andere Ziele verfolgt. Das bleibt nicht folgenlos:

Die Sichtweisen entfernen sich immer weiter voneinander, die Menschen haben das Gefühl, immer mehr in unterschiedlichen Wirklichkeiten zu leben und sie werfen sich das gegenseitig vor. Und je öfter sie das tun, desto größer werden die Differenzen und desto öfter wirft man dem Gegenüber das Anderssein vor. Durch diesen Teufelskreis werden die Konflikte schier unendlich verlängert und gewinnen immer mehr an Schärfe. Zusätzlich versuchen die Konfliktparteien, bis jetzt Außenstehende als Bündnispartner*innen zu gewinnen, wodurch der Konflikt noch mehr um sich greift – mit aller Belastung, die das für die Beteiligten mit sich bringt.

KOMMUNIKATION DIE DISTANZ ANERKENNT

Bei einer Beratung zur Konfliktbearbeitung wird als erster Schritt die Unterschiedlichkeit der Interessen und Wahrnehmungsweisen herausgearbeitet. Anders als in den eingespielten Konfliktmustern werden dabei die Differenzen zwischen den Personen und den Positionen in einer sachlichen Form sichtbar gemacht. Die allparteilichen Berater*innen verankern sich dabei in der Grundhaltung, dass Unterschiede zwischen Menschen etwas absolut Normales sind, dass wir keineswegs immer über die gleichen Sichtweisen verfügen und wir deshalb oft das Gefühl haben, in unterschiedlichen Wirklichkeiten zu leben.

Während zuvor die Benennung dieser Unterschiedlichkeit im Modus des Vorwurfs erfolgte und sich damit die Distanz beständig vergrößerte, ändert sich nun das Erleben. Wenn die Unterschiede klar und sachlich benannt werden können, wenn die Menschen ihren eigenen Sichtweisen und dem Gefühl, in unterschiedlichen Realitäten zu leben, vorwurfsfrei Ausdruck geben können, dann sorgt das für Erleichterung. Es tritt eine erste Entspannung ein und die Positionen driften nicht immer weiter auseinander. Gleichzeitig kann sich nun oft auch die Trauer darüber zeigen, dass die Konfliktbeteiligten in so unterschiedlichen Gefühlswirklichkeiten leben. Das gilt besonders dann, wenn die gemeinsame Geschichte mit einer starken Vision von Nähe und Verbindung begonnen hat. So schmerzhaft diese Trauer sein kann, so bringt sie doch auch zum Ausdruck, dass die Streitenden früher eine gemeinsame Basis hatten, die nun vielleicht sogar wiedergewonnen werden kann.

KOMMUNIKATION DIE VERBINDUNG SCHAFFT

Es kann etwas dauern, bis alle Beteiligten akzeptieren, dass jede:r in einer eigenen Gefühlswirklichkeit lebt und dass dies nichts Schlechtes sein muss. Wenn diese Einsicht aber Wurzeln geschlagen hat, dann können sich die Dinge zum Positiven wenden. Sobald ich anerkenne, dass mein Gegenüber in seiner/ihrer eigenen Realität lebt, eröffnen sich mir völlig neue Möglichkeiten, sein oder ihr Handeln zu verstehen. Was früher für mich ein eindeutiger Beweis für böse Absichten war, erscheint mir plötzlich als ein nachvollziehbares Eigeninteresse. Auf diese Weise wird es möglich, die verschiedenen Stationen des Konflikts neu zu beschreiben. Die Berater*innen öffnen diesen Raum der Verständigung und sorgen dafür, dass es keinen Rückfall in die alten, Distanz schaffenden Kommunikationsmuster gibt.

Dadurch kann es gelingen, dass sich die Beteiligten eine neue Version ihrer bisherigen Geschichte erzählen und damit neue Möglichkeiten für eine gemeinsame Zukunft gewinnen. Oft kommt dabei das Ziel, das vor der Zeit des Konflikts für eine gemeinsame Basis gesorgt hat, wieder zum Vorschein und kann helfen, zu einer neuen gemeinsamen Ausrichtung zu kommen.

Diese neue Haltung überdeckt aber nicht die Unterschiedlichkeit der Menschen. Im Gegenteil erkennt sie an, dass wir mitunter in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben, aber sie ermöglicht gleichzeitig, zwischen diesen Wirklichkeiten starke und tragende Verbindungen zu schaffen. Das Anderssein der Anderen wird nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen, sondern als Chance, meinen eigenen Horizont zu erweitern und mehr von dieser unendlich vielfältigen Welt kennen zu lernen.

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